Whataboutismus
Ein rhetorisches Ablenkungsmanöver, bei dem vom angeprangerten Missstand abgelenkt wird, indem auf einen anderen verwiesen wird. Insbesondere hat dies den Effekt (und oft sogar den Zweck), dass weder der eine noch der andere behoben wird.
Beispiel:
A: Um essen ja nur noch biologisch angebautes Gemüse.
B: Und wie hilft das hungernden Kindern in Afrika?
Es wäre ein interessantes Diskussionsthema, zu hinterfragen, ob biologisch angebautes Gemüse wirklich gesundheitlich oder moralisch positiv zu bewerten ist, aber ganz klar ist der Verweis auf hungernde Kinder kein Beitrag zu dieser Diskussion, sondern eher ein Versuch, vom Thema abzulenken.
Herkunft und Erklärung
Der Begriff „Whataboutismus“ ist ein Kofferwort, das aus dem englischen Ausdruck „what about…?“ (frei übersetzt: „und was ist mit…?“) und der Endung -ismus, die auf ein Gedankensystem oder eine Vorgehensweise hindeutet, zusammengesetzt ist.
Der Ausdruck entstand während des Kalten Krieges, um eine spezifische Form der Zurückweisung westlicher Kritik durch die Sowjetunion mittels Hinweis auf Missstände in der westlichen Welt zu bezeichnen. Das folgende Beispiel paraphrasiert dies (in etwas überspitzter Weise):
A: In der Sowjetunion werden Dissidenten in Straflager gesteckt.
B: In den USA dagegen werden Schwarze gelyncht.
So verachtenswert Lynchmorde in den USA (und anderswo!) auch sind, weder haben sie etwas mit der Unterdrückung anderer Meinungen in totalitären Staaten zu tun, noch hilft der Verweis darauf, etwas am Los der einen wie der anderen zu verbessern. Es liegt nahe, dass es hier vor allem darum geht, eine Diskussion zu unterbinden.
Übrigens handelt es sich bei dieser Form einer Replik spezifisch um einen rhetorischen Tu-Quoque-Angriff, einer Form von Ad-Hominem.
Gerechtfertigte Anwendung
Wie alle Ablenkungsmanöver ist das Vorbringen eines „Whataboutismus“ zum Zwecke der Ablenkung vom eigentlichen Thema eine unfaire Diskussionstaktik. Es gibt jedoch Situationen, in denen es gerechtfertigt sein kann, das Diskussionsthema zu einem anderen Thema in Bezug zu stellen.
Gegenbeispiele
Nichts spricht dagegen in einer Diskussion ein sachgemäßes Gegenbeispiel einzubringen, welches eine Aussage widerlegt oder einschränkt.
Ein Beispiel aus der Literatur:
A: Ganz Gallien ist von Rom besetzt.
B: Und was ist mit dem kleinen Dorf in Aremorica, deren Bewohner nicht aufhören den Invasoren Widerstand zu leisten?
Hier ist der Hinweis darauf, dass es eine Einschränkung gibt, wodurch die allgemeine Aussage („ganz Gallien“) nicht gehalten werden kann, durchaus angemessen und damit nicht als Ablenkungsmanöver einzuordnen.
Ebenso kann ein Gegenbeispiel sinnvoll sein, um eine Aussage zu widerlegen. Insbesondere Allsätze lassen sich durch ein einzelnes Gegenbeispiel widerlegen.
A: Alle Schotten sind geizig.
B: Und was ist mit Andrew Carnegie? Der war Schotte und als sehr großzügig bekannt.
Auch hier dient das Einbringen eines anderen Beispiels nicht dazu, vom eigentlichen Thema abzulenken, sondern ist sachgemäß und damit zulässig.
Zurückführen auf das eigentliche Thema
Wird in einer Diskussion das Thema gewechselt, oder gleitet die Diskussion in andere Themenbereiche ab, kann eine Form von Whataboutismus benutzt werden, um wieder auf das eigentliche Thema zurück zu kommen.
Dabei spielt es keine Rolle, ob die Ablenkung absichtlich oder unabsichtlich vor sich ging: Wichtig ist, das diese Zurückführen auf das eigentliche Thema ein Beitrag zur sachlichen Diskussion ist, und nicht dazu dient, diese zu verhindern.
In Zugzwang setzen
Wenn man in der Tat bereit ist, seine eigenen Probleme anzuerkennen und Anstrengungen unternimmt, sie zu beseitigen, ist es legitim, auf Probleme der anderen Seite hinzuweisen um diese damit in Zugzwang zu setzen, auch für eine Verbesserung einzutreten.
Um auf das obige Beispiel aus dem Kalten Krieg zurückzukommen. Zur Zeit der Perestroika könnte es sich wie folgt abgespielt haben:
A: In der Sowjetunion werden Dissidenten in Straflager gesteckt.
B: Das ist in der Tat geschehen, aber inzwischen wurden alle politischen Häftlinge entlassen – wo wir schon dabei sind: welche Maßnahmen wurden denn in den USA getroffen, um die rechtliche und gesellschaftliche Stellung Farbiger zu verbessern?
Voraussetzung dafür ist natürlich, dass die eigene Seite tatsächlich sinnvolle Anstrengungen gemacht hat, die Situation zu verbessern.
Tu Quoque
Für Beispiele gerechtfertigter Anwendung des „Whataboutismus“, siehe auch den Artikel zum Tu-Quoque-Angriff, in dem es spezifisch um persönliche Angriffe geht.
Ungerechtfertigter Vorwurf des „Whataboutismus“
Gerade auf sozialen Medien wird der Begriff „Whataboutismus“ oft in einem sehr breiten Sinn verwendet, wobei der Begriff als „Totschlagargument“ gegen beliebige Vergleichsargumente hergenommen wird. In dieser Form ist der Gebrauch des Begriffes selbst ein rhetorisches Scheinargument, da es eine sachliche Diskussion zum Thema verhindern soll.
Allerdings ist die Abgrenzung in vielen Situationen nicht einfach. Verkürzt (und wahrscheinlich auch stark vereinfacht) ist die Hauptfrage:
Wird versucht, vom eigentlichen Thema der Diskussion abzulenken?
Die Unterscheidung lässt sich vielleicht anhand der folgenden Beispiele (die in der derzeitigen politischen Diskussion leider häufig zu beobachten sind), am besten erklären:
Beispiel: Rechts gegen Links
Ein leider häufig zu beobachtender Versuch, von Verfehlungen der eigenen politischen Ausrichtung (gerade der extremeren Ausprägungen) abzulenken, besteht darin, bei jedem Vorwurf sofort auf Verfehlungen des anderen Extremes hinzuweisen.
A: Die Zahl rechtsextremistischer Gewalttaten ist im letzten Jahr wieder gestiegen. Wir müssen entschiedener gegen diese Form der politischen Gewalt vorgehen!
B: Linke begehen auch politische Verbrechen!
In dieser Form wird versucht, die Gewalttaten der Rechtsextremisten zu relativieren oder zu verharmlosen und die Diskussion in eine andere Richtung zu lenken. Daher kann man dies durchaus als „Whataboutismus“ bezeichnen.
Wie üblich kann man ähnliches auch in die andere Richtung beobachten – wenn nämlich Sympathisanten linker Gewalttäter deren Taten mit Verweis auf rechtsextreme Gewalt zu verharmlosen versuchen („Hufeisentheorie“).
Übrigens ist jede Form von politischer Gewalt nicht mit einer demokratischen Werteordnung vereinbar – egal aus welcher politischen Richtung sie kommt. Von welcher Form politischen Extremismus jeweils die größte Gefahr ausgeht, sollte man dabei den einschlägigen Kriminalstatistiken entnehmen.
Aber nicht jeder Vergleich Links gegen Rechts ist ein „Whataboutismus“. Wenn die Diskussion etwa über ein allgemeineres Thema geführt wird und man innerhalb von diesem ein Gegenargument anbringt, kann dies durchaus ein sachliches Argument sein. Etwa im folgenden Beispiel:
A: Für den politischen Diskurs in einer Demokratie ist es wichtig, dass miteinander geredet und gemeinsam die beste Lösung gesucht wird.
B: Mit Rechten kann man nicht reden, die sind nicht an Diskussion interessiert!
A: Ich habe auf beiden Seiten – Link wie Rechts – Menschen getroffen, die offen und zu Diskussionen bereit sind, und solche, die sich verweigern. Unfähigkeit sachlich zu diskutieren ist kein Alleinstellungsmerkmal von Rechten.
B: Was für einWhataboutismus!
Hier irrt B, denn der Vergleich von Links und Rechts findet innerhalb des Themas statt und versucht nicht, von diesem abzulenken.
Abwehr
Wenn es sich tatsächlich um einen echten Fall von „Whataboutismus“ handelt (also keine der oben genannten Ausnahmen), kann dieser relativ leicht zurückgewiesen werden, mit Verweis auf das folgende Prinzip:
Zweimal Unrecht ergibt nicht einmal Recht.
Je nach Situation sollte dies natürlich passender formuliert werden, Zum Beispiel wie folgt:
Sie haben schon Recht, dass B auch ein großes Unrecht ist, das behoben werden sollte. Aber das Thema hier ist A und wir sollten deswegen hier über A reden, und wie es behoben werden kann. An anderer Stelle sollten wir dann auch über B reden.
Weitere Beispiele
Beispiele aus sozialen Medien
Der Gebrauch von Whataboutismen ist gerade in sozialen Medien weit verbreitet. Dies kommt wahrscheinlich daher, dass dort kurze, pointierte Antworten meist mehr Leser finden, als komplexe, ausdifferenzierte Analysen. Dies wird in den folgenden Beispielen gut illustriert:
A: Die russische Invasion der Ukraine war ganz klar ein Bruch des Völkerrechts!
B: Und was ist mit den Amerikanern? Die intervenieren doch auch dauernd überall auf der Welt„
Es muss nicht immer um die große Weltpolitik gehen. Auch im kleineren Rahmen wird so diskutiert:
A: Die Elektro-Tretroller werden immer wieder rücksichtslos abgestellt und haben sich zu einer echten Plage in der Stadt entwickelt. Es wäre dringend nötig, diese strenger zu reglementieren.
B: Und was ist mit Autos? Die stehen auch überall im Weg herum. Die gehören eigentlich verboten in der Stadt!
Abgesehen davon, dass Autos bereits stark reglementiert sind – und die Halter mit Abschleppkosten und Busgeldern rechnen müssen, wenn sie diese verkehrsbehindernd abstellen, sowie dass A nicht das Verbot, sondern nur eine strengere Reglementierung der auch „E-Scooter“ genannten Gefährte gefordert hat (Strohmann-Argument) – mit dem Verweis auf andere Fahrzeuge wird die Diskussion nicht weiter gebracht, sondern es wird höchstens vom eigentlichen Thema abgelenkt.
Steuerhinterziehung
Ein erstaunlich häufig gehörtes Scheinargument, mit dem mancher die eigene „kreative“ Steueroptimierung zu rechtfertigen versuchen:
Die Superreichen zahlen ja auch so gut wie keine Steuern.
(und deswegen ist es zu rechtfertigen, wenn ich [auch] Steuern hinterziehe)
Es gehört sicher zu den größten Ungerechtigkeiten unserer Zeit, dass diejenigen, die eigentlich den größten Nutzen von einer funktionierenden und stabilen Gesellschaft ziehen und auch noch auch die besten Möglichkeiten hätten, diese (über ihre Steuern) zu unterstützen, es gleichzeitig auch allzu leicht finden, sich genau dieser Verantwortung zu entziehen.
Dies jedoch als Rechtfertigung für eigenes Fehlverhalten zu heranzuziehen, trägt allerdings nichts dazu bei, dieses Problem zu lösen und verschärft es stattdessen nur umso mehr. Dies hat damit Aspekte von einem Scheinargument, auch wenn es hier wohl vor allem darum geht, sich selbst davon zu überzeugen.
Siehe auch
- Ignoratio elenchi – Lat./Altgr: „Unkenntnis der [korrekten] Widerlegung“
- Tu Quoque – verwandte unfaire rhetorische Taktik mit persönlichem Angriff (ad hominem)
Weitere Informationen
- Whataboutism auf Wikipedia