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Mehrdeutigkeit im Wahrheitsbegriff

Der Begriff „Wahrheit“ ist nicht immer so klar und eindeutig definiert, wie man vielleicht meint. Dieses Essay diskutiert drei mögliche Definitionen und zeigt, auf welche Weise diese miteinander in Konflikt stehen können.

Dieses Thema war hier zunächst als ein Beispiel für den Turm‐und‐Wall Fehler (engl.: motte and bailey fallacy) vorgesehen, aber je mehr Material dazu zusammen kam, desto mehr zeigte sich, dass dieses Thema zu vielschichtig und komplex ist, um im Rahmen eines kurzen Beispieltextes abgehandelt zu werden.

Gleichzeitig ist das Thema aber auch zu wichtig und interessant, um es ganz außen vor zu lassen. Da es auch nicht wirklich in das Format der anderen Artikel auf dieser Site passen wollte, setzt dies nun den Anfang für einen neuen Bereich „Essays“, wo hoffentlich bald noch mehr Artikel dazu kommen.

Warum ist dieser Begriff so wichtig?

Der Wahrheitsbegriff ist ein zentrales philosophisches Konzept, von dem viele andere wichtige Begriffe abhängen – unter anderem die Frage, was „richtig“ und „falsch“ ist und was eine „Tatsache“ oder eine „Lüge“. Er ist auch zentral für andere wichtige Konzepte, wie etwa „Wissen“ (meist definiert als „wahre und begründete Meinung“), wie beschreibt man die „Realität“ und noch vieles mehr.

Zu verstehen, welches Verständnis jeweils hinter jeder Verwendung des Begriffes „Wahrheit“ – oder irgend einem der davon abhängigen Begriffe – steckt, kann helfen, mögliche Mehrdeutigkeiten zu erkennen und nicht auf absichtliche oder unabsichtliche Verwirrungen hereinzufallen. Dies ist umso wichtiger, als dieser und die damit verbundenen Begriffe in der politischen und gesellschaftlichen Diskussion recht häufig – und nicht immer transparent – verwendet werden.

Aktuelle Diskussionen über Konzepte wie: „Alternative Fakten“, „Lügenpresse“, „Bullshit“, bis hin zum Einsatz von generativer künstlicher Intelligenz (LLM) hängen zu einem nicht unerheblichen Teil davon ab, was wir jeweils als „wahr“ und „richtig“ oder als „falsch“ und „gelogen“ verstehen.

Was ist „Wahrheit“?

Wie man von einem solchen zentralen Konzept erwarten kann, gab es im Laufe der Geschichte viele verschiedene Ansätze, den Begriff möglichst eindeutig zu definieren. Diese sind zwar in den meisten, aber eben nicht in allen Fällen miteinander kompatibel.

Grob lassen sich diese Definitionen in die folgenden drei Gruppen einteilen:

1. Korrespondenz mit der Realität

Der einfachste Ansatz, den Begriff „Wahrheit“ zu definieren, ist, die Übereinstimmung (Korrespondenz) einer Aussage mit der Realität zu betrachten.

Zum Beispiel:

Die Aussage: „Der Himmel ist blau
ist genau dann wahr, wenn wir beobachten können, dass der Himmel tatsächlich blau ist.

Das ist wahrscheinlich, wie die meisten Menschen intuitiv den Begriff „Wahrheit“ verstehen würden: als Übereinstimmung mit der Wirklichkeit.

Dies ist auch der Ansatz, der in den meisten Naturwissenschaften verwendet wird. Zum Beispiel in der Geologie:

Die Aussage: „Granit ist härter als Sandstein
ist genau dann wahr, wenn Granit einen messbar höheren Härtegrad hat als Sandstein.

Oder in der Biologie:

Die Aussage: „Zebras sind die bevorzugten Beutetiere von Löwen
ist genau dann wahr, wenn Beobachtungen zeigen, dass Löwen in der Tat Zebras als Beutetiere bevorzugen.

Dies ist ein praktikabler Ansatz, wenn es um Aussagen geht, welche sich durch einfache Beobachtung verifizieren (oder eben falsifizieren, also widerlegen) lassen. Löwen kann man bei der Jagd beobachten, die Härte von Gestein lässt sich recht einfach messen.

Was aber, wenn es um Aussagen über einen Sachverhalt geht, der sich eben nicht mehr so einfach direkt beobachten lässt:

Das Universum hat vor 13,8 Milliarden Jahren mit einem Urknall begonnen.

Da wir die Entstehung des Universums nicht direkt messen oder gar beobachten können, brauchen wir hierfür einen anderen Ansatz:

2. Kohärenz mit einem Aussagensystem

Nach diesem Ansatz wird eine Aussage als wahr angesehen, wenn sie sich widerspruchsfrei in ein etabliertes Aussagensystem integrieren lässt.

Das klingt zunächst einmal eher wenig sinnvoll, ist aber tatsächlich ein sehr verbreiteter Ansatz. Zum Beispiel ist in den Rechtswissenschaften für die Bewertung von neuen Gesetzen oder auch Gerichtsurteilen relevant, ob diese kohärent sind mit existierenden Gesetzen bzw. früheren Entscheidungen.

Ähnliches gilt für die Mathematik, wo wir Situationen wie die folgende haben:

Die mathematische Aussage:
2kl  ;k,list genau dann wahr, wenn sie nicht zu Widersprüchen mit den Axiomen der Mathematik führt.

Ähnliches finden wir zumindest zum Teil auch in Sozial- und Wirtschaftswissenschaften. Ganz zu schweigen von Spezialfällen, wie etwa die Theologie.

Beispiel: Physik

Das beste Beispiel hierfür dürfte die Physik liefern, in der die beiden genannten Wahrheitsdefinitionen quasi nebeneinander verwendet werden: Als Naturwissenschaft beschreibt die Physik natürlich die Realität, und damit ist die Korrespondenz ihrer Aussagen mit der Wirklichkeit von zentraler Bedeutung.

Die Physik ist aber auch sehr stark von der Mathematik geprägt und benutzt mathematische Modelle, um Aussagen über die Realität zu machen. Diese wiederum basiert, wie oben gezeigt, auf einem Kohärenz-Modell. Über diese beiden Ansätze kommt man in den meisten Fällen zu denselben Ergebnissen … aber eben nicht immer!

Zum Beispiel neigen viele mathematische Modelle dazu, gegen unendlich zu laufen – entweder gegen unendlich groß oder unendlich kleine Werte bzw. Abweichungen. In der Natur kommt „Unendlichkeit“ aber praktisch nie vor – es gibt immer Grenzen, sowohl im Großen als auch in der Genauigkeit, mit der gemessen werden kann.

Es fällt auf, dass viele wichtige Fortschritte in der Physik immer wieder daher kamen, dass es zu Konflikten zwischen den mathematischen Modellen und der Realität kam:

  • Aus der Erkenntnis, dass sich Geschwindigkeiten nicht beliebig (d.h. bis unendlich) aufaddieren lassen1), kam man auf die Einführung einer „Höchstgeschwindigkeit“, mit der sich kausale Effekte verbreiten können (etwas irreführend als „Lichtgeschwindigkeit“ bezeichnet).
  • Umgekehrt lassen sich etwa Energiezustände, Längen oder Zeiteinheiten nicht beliebig klein unterteilen, sodass die unendlich vielen Kommastellen von irrationalen Zahlen zur Beschreibung der Realität keinen Sinn machen (jede Zahl mit endlichen Kommastellen lässt sich als Bruch darstellen).

Kurz gesagt: Es gibt bestimmte Eigenschaften der Mathematik, welche sich nicht in der Realität wiederfinden. Unendlichkeit und Irrationalität sind hierbei nur zwei Beispiele von vielen.

Nun ist diese Einsicht nicht neu, und zumindest für erfahrenere Physiker sollte es selbstverständlich sein, dass alleine, dass sich aus einem mathematischen Modell eine Aussage ableiten lässt, noch nicht folgt, dass diese auch tatsächlich die Realität beschreibt. Hierfür wären dann noch experimentelle Erkenntnisse nötig. Ohne diese sollte man zunächst einmal von mathematischen Artefakten ausgehen und nicht von Erkenntnissen über die Realität.

Und natürlich gilt, dass sich die Mathematik, trotz einiger möglichen Problemfälle, als ein enorm mächtiges Werkzeug für die Beschreibung der physikalischen Realität erwiesen hat, welches in den meisten Fällen auch korrekte Erkenntnisse liefern kann.

Beispiel: Lernen und Bewertung von (neuen) Informationen

Die Fähigkeit, ein zumindest oberflächlich kohärentes Weltbild aufzubauen und darin kognitive Dissonanzen zu vermeiden, gehört zu den wichtigsten kognitiven Fähigkeiten eines jeden Menschen.

Ein wichtiger Aspekt dieser Fähigkeit besteht darin, neue Informationen danach zu beurteilen, ob und wie sie in das jeweilige bestehende Weltbild eingepasst werden können. Informationen, welche sich nicht so einfach einfügen lassen oder diesem womöglich sogar widersprechen, erfordern dabei zumindest einen höheren mentalen Aufwand, als solche, die leicht einpassbar sind.

„Schwierige“ Wissensgebiete wie die Quantenphysik oder auch die Probabilistik sind ja gerade deshalb so schwer zugänglich, weil sie nicht so leicht in ein naives Verständnis von Physik oder Mathematik zu passen scheinen.

Ebenso fällt es uns (allen!) schwerer, neue Informationen zu akzeptieren, wenn diese im Widerspruch zu unserem bestehenden politischen, religiösen oder ganz allgemein gesellschaftlichen Weltbild stehen. Wir neigen dazu, diese zunächst einmal als weniger relevant und/oder weniger glaubwürdig zu betrachten als solche, welche das eigene Weltbild zu bestätigen scheinen. Dieser Effekt ist bekannt als eine kognitive Verzerrung namens Bestätigungsneigung.

Auch hier gilt – wie bei allen kognitiven Verzerrungen – dass es sich nicht um Naturgesetze handelt, die wir nicht umgehen können. Menschen sind durchaus in der Lage, selbst zu entscheiden, welche neuen Informationen sie akzeptieren wollen und welche nicht – und im Idealfall tun wir das sogar nach rationalen Gesichtspunkten und nicht nur aus einem „Bauchgefühl“ heraus. Im Falle von Einsichten, die unseren bestehenden Überzeugungen widersprechen, ist dies jedoch mit einem relativ hohen mentalen Aufwand verbunden, sodass wir diese Fähigkeit vor allem bei besonders wichtigen Fragen einsetzen – etwa für wichtige Geschäftsentscheidungen – während ansonsten psychologische Effekte wie die oben beschriebenen die wichtigere Rolle spielen.

3. Soziale Festlegung

Eine besondere Leistung von sozialen Gruppen ist die Festlegung bestimmter Normen, die innerhalb dieser Gruppe gelten. Dies kann durch stillschweigende Übereinkunft geschehen, oder auch durch Bestimmung oder zumindest Beeinflussung durch eine Autorität (z. B. Gesetzgeber, Kirche), in jedem Fall sind diese Normen dann spezifisch für die jeweilige Gruppe oder Gesellschaft. In anderen Kontexten können sie wiederum anders definiert sein.

Diese Festlegungen können sich auf ein breites Spektrum unterschiedlicher Normen beziehen: Sie reichen von einfachen Regeln des täglichen Zusammenlebens (z. B.: „auf der Rolltreppe rechts stehen und links gehen“) über kodifizierte Regeln (z. B. Gesetze) bis hin zu dem Rahmen, in dem Phänomene des täglichen Lebens interpretiert werden – ist z. B. ein Gewitterblitz eine elektrostatische Entladung, oder der Ausdruck eines zornigen Gottes? (gesellschaftlicher Narrativ)

Als ein einfaches Beispiel für eine solche gesellschaftliche Norm, die sowohl durch Übereinkunft als auch durch Gesetze kodifiziert ist, könnte man sagen:

Im Straßenverkehr müssen alle auf der rechten Straßenseite fahren.

Dass solche Festlegungen arbiträr sein können, wird meist erst deutlich, wenn man mit einer anderen Festlegung, die in einem anderen Zusammenhang gültig ist, konfrontiert wird. In anderen Weltgegenden – etwa den britischen Inseln, auf Zypern oder in Japan – gilt stattdessen:

Im Straßenverkehr müssen alle auf der linken Straßenseite fahren.

Dabei können dieselben Fragen auch von derselben Gruppe zu unterschiedlichen Zeitpunkten unterschiedlich festgelegt werden. So wechselte Schweden von Links- zu Rechtsverkehr. Auch andere gesellschaftliche Narrative können sich im Laufe der Zeit ändern:

Bis zum frühen 20. Jahrhundert war die Frage, wer in einem Land die Staatsgewalt innehat, nach allgemeinem Verständnis durch das Prinzip des Gottesgnadentums geklärt. Dies könnte man (etwas vereinfacht) wie folgt in eine Aussage fassen:

Der König ist der von Gott eingesetzte Souverän.

Diese Rolle hat sich in der Zwischenzeit vollständig verändert. Selbst in (europäischen) Ländern, die sich eine konstitutionelle Monarchie bewahrt haben, gilt inzwischen das Prinzip der Volkssouveränität. Oder anders (und wiederum etwas vereinfacht) ausgedrückt:

Das Volk ist der souveräne Träger der Staatsgewalt.

Solche sozialen Festlegungen stellen auch eine Form von „Wahrheit“ dar, man könnte also sagen, dass es für Menschen des Mittelalters „wahr“ war, dass der Herrscher von Gottes Gnaden eingesetzt wurde, genauso wie es für uns heute „wahr“ ist, dass alle Staatsgewalt vom Volk ausgeht (bzw. ausgehen sollte).

Beispiel: Flache Erde

Während es als sicher gilt, dass im westlichen Kulturkreis spätestens seit Pythagoras die Kugelform der Erde bekannt war, ist unklar, in­wie­weit diese Erkenntnis tatsächlich Teil des Allgemeinwissens der breiten Bevölkerung wurde, oder ob das nicht eher zum „Expertenwissen“, z. B. von Seefahrern und einigen spezialisierten Gelehrten gehörte.

Anderswo scheint der Glaube an eine „flache Erde“ auf jeden Fall noch sehr lange fester Bestandteil des Wertekanons gewesen zu sein. Im klassischen China zum Beispiel galt diese Denkweise anscheinend bis zum 17. Jahrhundert als das allgemein akzeptierte Weltbild:

Exemplarisch eine Aussage des chinesischen Universalgelehrten Zhāng Héng [張衡], der im 1. bis 2. Jahrhundert unserer Zeitrechnung lebte:3)

Der Himmel […] ist rund und in Bewegung; die Erde […] ist flach und unbewegt.

Eine solche Festlegung ist die „soziale Wahrheit“ im Rahmen der jeweiligen Gesellschaft. Sie ist ebenso „wahr“, wie die jeweilige Festlegung, auf welcher Straßenseite man fahren sollte, oder wer die Rolle des Souveräns im Staat ausübt.

Was sie von den weiter oben genannten Festlegungen unterscheidet, ist jedoch ihr Verhältnis zur Realität: Es gibt hier einen leicht erkennbaren Konflikt zwischen der sozial festgelegten „Wahrheit“ und deren Korrespondenz mit der Realität. Offensichtlich war unser Planet auch schon zur Zeit der chinesischen Han-Dynastie kugelförmig, ganz gleich, was die Menschen darüber dachten.

Auf eine ähnliche Weise ist die Scheibenform der Erde eine „soziale Wahrheit“ in bestimmten Kreisen von „Flat Earthers“, also modernen Anhänger des Glaubens an eine flache Erde. In vielen Fällen dürfte diese Ansicht auch „wahr“ sein, in dem Sinne, dass diese Weltsicht besser in ihr jeweiliges Weltbild passt (siehe „Kohärenz mit einem Aussagensystem“ oben) – aber auch das ändert natürlich nichts daran, dass es eben nicht mit der Realität korrespondiert.

Äquivokationen des Wahrheitsbegriffes

Es ist nicht schwer, sich vorzustellen, dass solche unterschiedlichen Wahrheitsdefinitionen leicht miteinander verwechselt werden können. Im schlimmsten Fall wird eine solche Verwechslung als rhetorische Verwirrungstaktik eingesetzt, indem nämlich eine „Wahrheit“ nach der einen Definition etabliert wird und dann so getan wird, es handle sich um die andere.

Dies ähnelt dem hier als „Turm-und-Wall Fehler“ bezeichneten Denk- und Argumentationsfehler. Hierbei werden zwei ähnliche (aber nicht identische) Positionen untereinander vertauscht – in diesem Fall zwei verschiedene Wahrheitsdefinitionen – in der Hoffnung die Diskussionspartner, oder wenigstens ein Teil des Publikums (Bauernfängerei) werde das schon nicht bemerken.

Beispiel: „Alternative Fakten“

Als ein solches Verwechslungsspiel kann man zum Beispiel den Gebrauch des Begriffes „alternative Fakten“ (engl.: „alternative facts“) verstehen, mit dem Kellyanne Conway, die damalige Beraterin des früheren US-Präsidenten Donald Trump, eine Behauptung des Pressesprechers Sean Spicer zu rechtfertigen versuchte, der eine faktisch falsche (im Sinne von „nicht mit der Realität korrespondierende“) Aussage über die Zahl der Teilnehmer der Inaugurations­feier des Präsidenten gemacht hatte. Sie versuchte damit wohl zu suggerieren, diese sei nach einer der anderen Wahrheitsdefinition „wahr“ – entweder im Sinne der Kohärenz mit ihrem Weltbild, oder als soziale Wahrheit in ihrem bzw. dem Umfeld des Präsidenten.

Im Prinzip spricht auch nichts dagegen, eine solche „alternative“ Wahrheitsdefinition zu verwenden – vorausgesetzt, diese wird transparent kommuniziert. Das war in dieser Situation jedoch nicht der Fall. Vielmehr hat Ms. Conway versucht, die „soziale Wahrheit“ als äquivalent zu gegenteiligen Aussagen darzustellen, wofür sie (wohl zurecht) der Lüge bezichtigt wurde.

Hierarchie der Wahrheitsdefinitionen

Ein möglicher Lösungsansatz zu solchen Definitionskonflikten scheint darin zu bestehen, dass man eine Hierarchie der Bedeutungen definiert – etwa indem man Korrespondenz-Wahrheiten als „richtiger“ oder „wahrer“ ansieht als Kohärenz-Wahrheiten und dann mögliche soziale Wahrheiten weniger gewichtig als die beiden anderen Formen.

Dieser Ansatz ist die logische Konsequenz der naiven Annahme, dass die Korrespondenz mit der Realität die „natürliche“ Definition des Begriffs darstellt, während die anderen Formen eher „Umdefinierungen“ seien, mithin also rhetorische Kniffe, um den Begriff auch außerhalb des normalen Anwendungsbereiches gebrauchen zu können.

Dem muss jedoch entgegengehalten werden, dass jede dieser Wahrheitsdefinitionen jeweils einen Gültigkeitsbereich hat, in dem sie „richtiger“, oder wenigstens „sinnvoller“ sind als die anderen. Um nur einige Beispiele zu nennen:

  • Auch wenn mathematische Konzepte wie die imaginäre Zahl i, oder Irrationalität keine Korrespondenz in der Realität haben, sind sie doch sinnvolle Konzepte, welche helfen können, Phänomene in der Realität besser zu beschreiben, als dass es ohne diese Konzepte möglich wäre. Mit anderen Worten, ein Kohärenz-Ansatz ist in diesen Fällen deutlich sinnvoller als ein Korrespondenz-Ansatz.
  • Wenn Historiker z.B. über das Weltbild in der Zeit der chinesischen Han-Dynastie schreiben, macht es wenig Sinn, darauf hinzuweisen, dass die Erde tatsächlich auch im 3. Jahrhundert unserer Zeitrechnung schon eine Kugel war. Der wichtige Aspekt hier ist, dass die soziale Wahrheit für Menschen dieser Gesellschaft, die einer flachen Welt war.

Anstatt eine generelle Hierarchie der Wahrheitsdefinitionen aufzustellen, ist es sinnvoller, für jeden spezifischen Kontext die am besten geeignete Definition zu wählen und – das ist der wichtige Teil: dies auch transparent zu machen!

Fazit

Eine Reihe von Problemen können auftreten, wenn unterschiedliche Wahrheitsbegriffe auf eine Weise verwendet werden, die sie ununterscheidbar machen, obwohl eine Unterscheidung angemessen wäre. In Extremfällen können verschiedene Wahrheitsdefinitionen parallel im selben Kontext, oder sogar in derselben Aussage verwendet werden.

In vielen Fällen führen solche Mehrdeutigkeiten zu einer Form von Turm‐und‐Wall-Situation, bei der die verschiedenen Konzepte ununterscheidbar miteinander vermischt werden.

Man sollte allerdings nicht automatisch davon ausgehen, dass dahinter in jedem Fall eine absichtliche rhetorische Verwirrungs­taktik steckt. Die Unterschiede zwischen den verwendeten Definitionen sind nicht immer so eindeutig und klar erkennbar wie in den Beispielen hier. Wahrscheinlicher ist es, dass der Grund für eine solche Mehrdeutigkeit eine echte Verwechslung ist.

Umso wichtiger ist es, die möglichen Implikationen, die sich aus den verschiedenen Wahrheitsbegriffen ergeben, zu kennen, erkennen zu lernen, und gegebenenfalls auch von Diskussionspartnern klar stellen zu lassen.

Und natürlich sollte man selbst solche Mehrdeutigkeiten vermeiden. Das kann durch eine Klarstellung der gebrauchten Definition(en) geschehen, oder durch qualifizierende Attribute, wie die hier benutzten Bezeichner „soziale Wahrheit“ gegenüber „Korrespondenz-Wahrheit“. In manchen Situationen kann es auch genügen, die verschiedenen Abstraktionsstufen von Wahrheit gegenüber „Wahrheit“ typographisch (z. B. durch Anführungszeichen) kenntlich zu machen.

Siehe auch

Weitere Informationen

  • Wahrheit auf Wikipedia
  • Truth auf Stanford Encyclopedia of Philosophy (Englisch)

Über diese Site

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2)
An dieser Stelle mein Dank an Nicholas Shackel, dessen (sehr lesenswerter!) Artikel The Vacuity of Postmodernist Methodology (https://philpapers.org/rec/SHATVO-2) eine wichtige Inspiration für mich war, mich mit dem Thema Mehrdeutigkeit des Wahrheitsbegriffes sehr viel tiefergehend auseinanderzusetzen, als es ursprünglich geplant war.
3)
Auch im klassischen China gab es schon Überlegungen zur Kugelform der Welt, einschließlich von dem hier zitierten Zhāng Héng. Der allgemeine Konsens schien aber der einer flachen Erde zu sein.

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