Akzidensfehler
Eine unzulässige Verallgemeinerung, bei der eine allgemeine Regel angewendet oder formuliert wird, obwohl in dem spezifischen Fall eine Ausnahme anwendbar wäre.
Zum Beispiel:
Es ist illegal, einen Menschen zu verletzen.
Daher ist es auch illegal, wenn ein Chirurg eine Notoperation durchführt.
Auch wenn eine solche allgemeine Regel sicher grundsätzlich gerechtfertigt ist, gibt es doch besondere Umstände, in denen von der allgemeinen Regel abgewichen werden kann (oder sogar muss). Eine „Notoperation“, also ein chirurgischer Eingriff, der dazu dient, einem Menschen das Leben zu retten, ist sicherlich ein Beispiel für eine solche Ausnahme.
Namen
Andere Namen und Bezeichnungen
- Trugschluss der Akzidenz
- Prinzipienreiterei
- Accident fallacy
- Secundum quid (et simpliciter)
- A dicto simpliciter (ad dictum secundum quid)
Hinweis zum Namen
Der Begriff „Akzidens“ (manchmal auch „Akzidenz“ geschrieben) bezeichnet einen nicht-wesentlichen Aspekt einer Sache. Er bildet das Gegenteil zur „Substanz“. Das Wort leitet sich vom Lateinischen „accĭdens“ ab, welches auch mit „zufällig Geschehendes“ oder „Umstand“ übersetzt werden könnte. Das englische Wort „accident “ („Unfall“) hat zwar den gleichen Ursprung, führt in diesem Zusammenhang aber eher in die Irre.
Der Name verweist also darauf, dass bei diesem Denkfehler die Begleitumstände, durch welche eine Ausnahme zu der allgemein gültigen Regel gerechtfertigt wäre, nicht beachtet werden.
Beschreibung
Grundsätzlich gilt, dass das Befolgen von allgemeingültigen Regeln – seien dies Gesetze, ethisch-moralische Grundsätze, oder auch ganz einfach technische Best Practices oder Gestaltungsrichtlinien – zunächst einmal eine positive Sache.
Dabei sollte man aber nicht vergessen, dass alle diese Regeln bestimmte Gültigkeitsbereiche und Voraussetzungen haben und damit auch Bereiche, in denen sie nicht mehr sinnvoll anzuwenden sind. Mit anderen Worten: es gibt Ausnahmen, unter denen die allgemeinen Regeln nicht mehr oder zumindest nur noch unter Vorbehalt gelten.
So finden bestimmte gesetzliche Regelungen wie das Gewaltmonopol des Staates oder auch private Eigentumsrechte ihre Grenzen, wenn es um Notfälle oder Nothilfe geht.
Ein Grundsatz, den der Autor im Zusammenhang mit Design und Gestaltung gelernt hat und der dies sehr gut illustriert kann wie folgt formuliert werden:
„Zuerst lerne die Regeln,
dann lerne, wann man sie bricht.“
Der Begriff „Akzidensfehler“ bezieht sich also spezifisch auf das Anwenden und womöglich Beharren auf einer allgemeinen Regel, in einer Situation, in der ein solcher „Regelbruch“ angemessen, oder dies zumindest diskussionswürdig wäre.
Weitere Beispiele
Pazifismus und Selbstverteidigung
Ein aktuelles Beispiel für ein solches Dilemma ist die Frage, ob pazifistische Prinzipien auch anwendbar sind, wenn ein Land von einem anderen angegriffen wird – ob also Grundsätze wie der, keine Waffen in Krisengebiete zu liefern, beziehungsweise das Drängen auf eine Friedenslösung quasi zu jedem Preis, auch dann noch moralisch vertretbar ist, wenn man damit einem Land die Fähigkeit nimmt, sich gegen einen Angriff selbst zu verteidigen und womöglich gezwungen wird, eine Friedenslösung zu akzeptieren, unter der große Gebiete, einschließlich der darauf lebenden Menschen, an den Aggressor abgetreten werden müssen.
Zumindest müsste in solche einer Situation die Frage diskutiert werden, ob die Prinzipien hier noch anwendbar sind, oder ob die Situation nicht eine Ausnahme rechtfertigt.
Deontologische oder konsequentialistische Ethik
Solche Fragen führen auf eine abstrakteren Ebene zu einer der grundsätzlichen Dilemmas der philosophischen Ethik, nämlich der Frage, ob Handlungen in erster Linie dahingehend zu bewerten sind, ob sie allgemeingültigen Regeln entsprechen (Deontologische Ethik), oder danach, welche Folgen sich aus ihnen ergeben (Konsequentialismus).
Beide Ansätze sind in vielen Situationen miteinander kompatibel, widersprechen sich jedoch in anderen. Beide Ansätze können darüber hinaus, wenn sie konsequent angewendet werden, zu widersinnigen, offensichtlich „unethischen“ Handlungen führen. Die „ethisch korrekte“ Anwendbarkeit beider Ansätze in verschiedenen Situationen ist daher eine ergiebige Quelle von Diskussionsmaterial im Rahmen der Moralphilosophie.
Ein gutes Beispiel hierfür ist das Gebot, nicht zu lügen, welches aus einer deontologischen Sichtweise absolut gilt. Aus dieser Sicht ist es also unter allen Umständen moralisch geboten, die Wahrheit zu sagen, auch wenn dies möglicherweise negative Konsequenzen hat (siehe z.B. Immanuel Kants Aufsatz „Über ein vermeintes Recht aus Menschenliebe zu lügen“).
Dagegen wird aus einer konsequentialistischen Sicht anerkannt, dass es spezifische Rahmenbedingungen gibt, unter denen die allgemeine Regel nicht mehr anwendbar ist, sondern eine Ausnahme gemacht werden muss. Als ein typisches Beispiel für eine solche Situation gilt es etwa, dass eine Lüge möglich sein muss, wenn man damit jemanden, der vor einer Gewalttat flieht, vor seinen Verfolgern versteckt, und ihm damit das Leben rettet. So argumentierte etwa Benjamin Constant in seiner Replik „Des réactions politiques“ (1797) auf Kants o.g. Aufsatz.
Hinweis: Auch eine konsequentialistische Ethik erlaubt den Regelbruch nur, um übermäßig negative Konsequenzen zu vermeiden – etwa wie in dem Beispiel, um ein Menschenleben zu retten. Eine Lüge zur Erlangung persönlicher Vorteile, oder um erträgliche Nachteile zu vermeiden, wäre davon nicht abgedeckt.
Siehe auch
Weitere Informationen
- Accident (fallacy) auf Wikipedia (Englisch)
- Accident Fallacy auf Logically Fallacious (Englisch)
- The Fallacy of Accident auf Fallacy Files (Englisch)