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Reifikation

Ein Denk- bzw. Abstraktionsfehler, der darin besteht, abstrakte Konzepte wie konkrete Dinge oder gar als Agenten mit Absichten und Hand­lungs­weisen zu behandeln.

Dies wird in Aussagen wie der folgenden deutlich:

Die Zentralbank hat den Leitzins erhöht, um den Markt zu beruhigen.

Der „Markt“ ist in dem hier gebrauchten Sinn ein abstraktes Konzept, welches das Zusammenspiel von vielen Handelnden beschreibt – als solches kann der Markt auch nicht „beruhigt“ werden. Im Gegensatz zu den auf dem Markt agierenden Personen.

Namen

Andere Begriffe

  • Vergegenständlichung
  • Hypostasierung
  • Objektifizierung
  • (Fallacy of) misplaced concreteness

Namensherkunft

Der Ausdruck „Reifikation“ leitet sich von den lateinischen Begriffen „rēs“ („die Sache“) und „făcĕre“ („etw. machen, herstellen“) ab. Man kann den ursprünglich lateinischen Ausdruck also mit „etwas zu einer Sache machen“ übersetzen.

Beschreibung

Abstrakte Begriffe können helfen, mit komplexen Konzepte auf eine einfache Weise umzugehen und sie im übertragenen Sinn „be-greifbar“ zu machen.

Allerdings besteht damit die Gefahr, dass solche Abstraktionen irgendwann als etwas „konkretes“ wahrgenommen werden und ihnen Eigenschaften zugesprochen werden, die ein abstraktes Konzept prinzipiell nicht haben kann.

Der Denkfehler hier besteht also darin, ein abstraktes Konzept als etwas Konkretes zu verstehen – im Extremfall sogar mit typisch menschlichen Eigenschaften – und nicht mehr als eine Abstraktion.

Einschränkungen

Die Reifikation ist ein Denkfehler, bei dem ein abstraktes Konzept unzulässig als eine konkrete Sache verstanden wird. Insbesondere durch Äquivokationen kann es aber zu Situationen kommen, wo dies nur schein­bar geschieht:

Abstrakte Begriffe mit konkreter Bedeutung

Abstrakte Begriffe können in spezifischen Fällen durchaus für konkrete Dinge stehen, etwa in Form eines totum pro parte (Me­to­nymie). Zum Beispiel:

Deutschland hat gewählt!

Offensichtlich ist ein Land (hier: Deutschland) keine Person und hat entsprechend kein Wahlrecht und kann somit auch nicht „gewählt haben“. Auf den ersten Blick scheint dies also eine Reifikation zu sein.

In diesem Fall bezieht sich der Ausdruck aber erkennbar nicht wirklich auf das Land an sich, sondern auf die wahl­berechtigte Bevölkerung des Landes, oder zumindest auf diejenigen, die tatsächlich von ihrem Wahlrecht Gebrauch gemacht haben („das Ganze steht für einen Teil“). Damit beschreibt das Wort „Deutschland“ nicht ein abstraktes Gebilde, sondern in der Tat eine konkrete (und zur Wahl berechtigte) Gruppe von Menschen.

Mit anderen Worten, die Extension des Begriffes „Deutschland“ ist in diesem spezifischen Kontext tatsächlich konkret und nicht abstrakt.

Konkrete Begriffe mit abstrakter Bedeutung

Auch der umgekehrte Fall ist möglich: Ein abstrakter Ausdruck kann in einem scheinbar konkreten Zu­sam­men­hang gebracht werden, der aber in dem spezifischen Zusammenhang abstrakt gemeint ist:

Die Würde des Menschen ist unantastbar.

Offensichtlich ist „Menschen­würde“ ein ab­strakter Be­griff, der schon mangels einer phy­sischen Re­prä­sen­tation nicht im eigent­lichen Sinn „an­ge­tastet“ werden kann. Aller­dings wird auch „an­tasten“ hier auch nicht im ursprünglichen, kon­kreten Sinn ge­braucht, sondern in einem über­trag­enen, der u.a. aus­drückt, dass etwa keine Ge­setze er­lassen werden dürfen, welche diese verletzen.

Anders gesagt: der Begriff „an­tasten“ hat zwar meist­ens eine kon­krete Be­deut­ung, aber in diesem spe­zi­fischen Fall wird er tat­säch­lich in einem ab­strakten Sinn ge­braucht. Es handelt sich also um keine Rei­fi­kation.

Beispiele

„Mutter Natur“

Die „Natur“ ist keine konkrete Sache, sondern ein abstraktes Konzept, welches eine Vielzahl von Phänomenen und deren Zusammenspiel übergreifend beschreibt. Noch weniger ist die „Natur“ ein bewusst handelndes Wesen mit menschlichen Intentionen, wie es Begriffe wie z.B. „Mutter Natur“ nahelegen:

Mutter Natur kümmert sich um ihre Kinder.
Mutter Natur schlägt zurück.

Offenkundig kann ein abstraktes Konzept weder Muttergefühle (oder auch nur „Kinder“) haben, noch Rache­gelüste und schon gar nicht aktiv handeln.

„Die Gesellschaft“

Die Gesellschaft ist schuld an XYZ.

Wohl jeder hat solche, vermeintlich „gesellschaftskritischen“ Aussagen schon gehört, die echte oder ver­meint­liche Missstände mit der Struktur und Eigenheiten „der Gesellschaft“ zu erklären versuchen.

Allerdings ist eine Gesellschaft ein abstraktes Konzept, das keine „Schuld“ an irgendetwas tragen kann. Durch die „Verdinglichung“ (womöglich sogar „Vermenschlichung“) des Konzeptes wird davon abgelenkt, dass es ge­wöhn­lich durchaus Aktoren in der Gesellschaft gibt, die Missstände beheben können. Es wäre sinnvoller, diese klar zu benennen.

Übrigens sind im Zweifelsfall die Aktoren, die eine Gesellschaft verändern können, alle Mitglieder dieser Ge­sell­schaft (wenn auch meist in unterschiedlichem Maße).

Ähnliches gilt für viele andere konzeptuelle Begriffe, hier nur als ein Beispiel:

Das Patriarchat ist schuld daran, dass Frauen weniger verdienen als Männer.

Auch hier ist „das Patriarchat“ eine Abstraktion, die keine „Schuld“ tragen kann. Ganz im Gegensatz z.B. zu Arbeitgebern (oder – auch das kommt ja vor: Arbeitgeberinnen), welche weiblichen Angestellten weniger be­zahlen als männlichen. Um diesen Missstand zu beheben, wäre es ein erster Schritt, den oder die konkret dafür Verantwortlichen offen auszusprechen.

Siehe auch

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