====== Ökologischer Fehlschluss ====== Beschreibt einen Fehl­schluss, bei dem ein [[mathematik:statistik:hauptseite|sta­tist­isches]] Merk­mal unzu­lässig auf ein nied­rig­eres [[begriffe:aggregation_statistik|Ag­gre­ga­tions­niveau]] über­tragen wird, als das, auf welches es tat­säch­lich vor­weist. > Die Kriminalitätsrate in der Stadt X ist ver­hält­nis­mäßig hoch. > Person A kommt aus der Stadt X. > Also ist A kriminell. Ein solcher Schluss ist natür­lich un­sinnig, da selbst in einer Stadt mit sehr hoher Krimi­na­li­täts­rate immer noch nur ein kleiner Teil der Be­völk­er­ung tat­sächlich krimi­nell ist – die Wahr­schein­lich­keit, dass eine be­lieb­ige Per­son tat­säch­lich in der Gruppe der Krimi­nellen ist, ist daher recht gering. Anders gesagt: Die Krimi­nali­täts­rate einer Stadt liegt auf einem //hohen// Ag­gre­ga­tions­niveau vor (es be­zieht sich auf die //Gesamt­heit// der Be­wohner einer Stadt). Eine Über­trag­ung auf ein nied­rig­eres Niveau (in diesem Fall auf die indi­vidu­ellen Be­wohner, aber ebenso auf eine Unter­gruppe, etwa die Be­wohner eines Stadt­viertels) ist nicht so ein­fach möglich. Während den meisten wohl die Ab­surdi­tät eines solchen Schlus­ses sofort ein­leuchtet, wenn er sich wie hier auf eine Stadt be­zieht, sind ver­gleich­bare Ver­all­ge­mein­er­ungen, die sich auf [[wpde>Ethnizität|Eth­ni­zi­tät]], [[wpde>Religion|Reli­gion]] oder [[wpde>Abstammung|Ab­stamm­ung]] be­ziehen, je­doch recht ver­breitet. Man denke nur an ver­breitete Vor­urteile über z.B. [[wpde>Roma]], [[wpde>Muslim|Mus­lime]], [[wpde>Albaner|Al­baner]] oder auch [[wpde>Sizilien|Sizil­ianer]]. ===== Andere Namen ===== * Gruppen­fehlschluss * Ecological (infer­ence) fallacy * Popu­lation fallacy ===== Beschreibung ===== [[mathematik:statistik:hauptseite|Statistische]] Kenn­zahlen sind stets //Ver­ein­fach­ungen// der zu­grunde lieg­enden Daten. Re­du­ziert man kom­plexe Sach­ver­halte auf einen oder auf wenige Kenn­zahlen, lassen sich diese leichter ver­stehen, kom­mu­ni­zieren oder auch ver­gleichen. Man ver­liert da­mit aber auch In­for­ma­tionen, ins­be­sondere zu den Daten, die über Indi­vi­duen vor­liegen. So ist etwa die Krimi­na­li­täts­rate einer Stadt ein sinn­volles Maß, um diese über einen Zeit­raum oder gegen­über anderen Städten ver­gleichen zu kön­nen. Sie ist nicht hilf­reich, um Infor­ma­tionen über Indi­vi­duen oder Unter­gruppen (z.B. Stadt­viertel) aus dieser Stadt zu er­halten. Der Fehler besteht nun genau darin, eine solche Kenn­zahl, die auf ein höh­eres Ag­gre­ga­tions­niveau ver­weist, auf ein nied­rig­eres Niveau zu über­tragen. Hier also: in­dem ver­mutet wird, die Krimi­nali­täts­rate der Stadt er­laube auch eine Aus­sage über Indi­viduen, die in dieser Stadt leben. ==== Abgrenzung ==== Spezifisch für diesen Denk­fehler ist, dass er sich auf [[mathematik:statistik:hauptseite|sta­tis­tische]] Kenn­zahlen be­zieht. Da­ge­gen be­zieht sich der [[verallgemeinerung:mereologischer_fehlschluss|mereo­log­ische Fehl­schluss]] auf das Ver­hält­nis zwischen einem //Sys­tem// als Ganzes und des­sen (funk­tio­naler) Be­stand­teile. Der [[logik:emergenzfehler:trugschluss_der_division|Trug­schluss der Di­vi­sion]] schließ­lich be­zieht sich spe­zi­fisch auf Über­trag­ungen, die sich aus dem Phä­no­men der [[begriffe:emergenz|Emer­genz]] er­geben. Nicht immer ist es aber ein­fach, zwischen all diesen zu unter­scheiden. Oft gibt es auch Situa­tionen, die mehrere Kate­gorien fallen könnten. In manchen Quellen werden diese Fehler daher auch alle einfach als Syno­nyme zu­ein­ander be­handelt. ==== Einordnung ==== Dieser Fehlschluss steht hier unter „[[mathematik:statistik:interpretationsfehler:hauptseite|Interpretationsfehler]]“ im Bereich [[mathematik:statistik:hauptseite|Statistik]], da dessen wesentliches Merkmal darin besteht, eine (korrekte) statistische Aussage falsch zu interpretieren und daraus ungültige Schlüsse zu ziehen. Man kann dies auch als eine Form von [[verallgemeinerung:hauptseite|unzulässiger Verallgemeinerung]] verstehen, da hier aufgrund von unzureichenden Informationen auf eine verallgemeinernde Aussage geschlossen wird. In der [[logik:hauptseite|Logik]] beschreibt der [[logik:emergenzfehler:trugschluss_der_division|Trugschluss der Division]] einen sehr ähnlichen Sachverhalt, jedoch spezifisch auf eine Nichtbeachtung des Phänomens der [[begriffe:emergenz|Emergenz]] bezogen. Allerdings könnte man argumentieren, dass die Maße der //deskriptiven Statistik// grundsätzlich als //emergente// Eigenschaften von Gruppen verstanden werden sollten. Und schließlich hat der //ökologische Fehlschluss// oft auch Aspekte eines [[verallgemeinerung:akzidensfehler:hauptseite|Akzidensfehlers]], nämlich dann, wenn nicht beachtet wird, dass eine Regel oder Aussage, die im Allgemeinen gilt, auch begründete Ausnahmen haben kann. ==== Gültige Anwendung ==== In Situationen, in denen ganz einfach keine besseren Daten ver­füg­bar sind, können Über­tragungen von höheren Ag­gre­ga­tions­niveaus als Basis für [[begriffe:heuristik|Heu­rist­iken]] brauch­bar sein, also als eine ein­fache Methode, die zwar keine „perfekten“, aber doch zu­mind­est „gut ge­nuge“ Er­geb­nisse her­vor­bringt. Man sollte sich dann aber natür­lich über die Ein­schränk­ungen, die solche //heu­rist­ischen// Methoden mit sich bringen, im Klaren sein. ===== Beispiele ===== ==== Ökonomische Maßzahlen ==== Eine wichtige stat­ist­ische Größe, die immer wieder zu Fehl­inter­preta­tionen führt, ist die [[wpde>Inflation|In­fla­tions­rate]]. Diese be­schreibt die //durch­schnitt­liche// Ver­änder­ung der Ver­braucher­preise, meist im Ver­gleich zum Vor­jahres­zeit­raum und sie kann in diesem Sinn gleich auf zwei ver­schied­ene Weisen falsch ver­standen werden: Zum einen bedeutet die ver­öffent­lichte In­fla­tions­rate nicht, dass sich //alle// Waren gleicher­maßen um diesen Pro­zent­satz ver­teuern. Einige Pro­dukte oder Pro­dukt­gruppen können deut­lich höhere, andere deut­lich nied­rigere Preis­steig­er­ungen auf­weisen – einige Pro­dukte können sogar gegen den Trend billiger werden. Daher sind selek­tive Ver­gleiche im Stil von „der Preis für Pro­dukt X ist seit letztem Jahr aber mehr als die of­fi­zielle In­fla­tions­rate ge­stiegen“ wenig aus­sage­kräftig. Noch weniger natürlich, wenn damit sug­ger­iert werden soll, dass die of­fi­ziel­le Sta­tistik un­richtig oder gar mani­pu­liert sei (siehe: [[rhetorik:killerphrasen:glaube_keiner_statistik_die_du_nicht_selbst_gefaelscht_hast|„Glau­be keiner Sta­tistik, die du nicht selbst ge­fälscht hast“]]). Zum anderen bedeutet die //all­ge­meine// In­fla­tions­rate für ein Land auch nicht, dass diese ident­isch zur //indi­vidu­ellen// In­fla­tions­rate sei, welche eine spe­zi­fische Per­son, Per­son­en­gruppe oder auch ein be­stimmter Wirt­schafts­sektor er­fährt. Letzt­lich unter­scheidet sich jedes indi­vi­du­el­le Kon­sum­profil – ein­schließ­lich der unter­schied­lichen Mög­lich­keiten, auf [[wpde>Substitutionsgut|Sub­sti­tu­tions­güter]] aus­zu­weichen – was dann auch zu sehr unter­schied­lichen //indi­vi­du­el­len// In­fla­tions­raten führt. So kann eine Lohn­er­höh­ung, die sich an der landes­weiten In­fla­tions­rate ori­ent­iert, für man­che zu einem re­alen Kauf­kraft­//ver­lust// führen, wärend andere wo­möglich sogar an Kauf­kraft ge­winnen. In beiden Fällen liegt ein //öko­log­ischer Fehl­schluss// vor, wenn die //all­gemeine// Teuer­ungs­rate auf eine andere Ebene über­tragen wird – sei es auf Indi­viduen oder Be­völk­er­ungs­gruppen, sei es auf spe­zi­fische Pro­dukte bzw. Pro­dukt­gruppen. Ähnliches kann man auch auf andere öko­nom­ische Maße über­tragen. Zum Bei­spiel ist die so­ge­nannte [[wpde>Kaufkraftparität|Kauf­kraft­pari­tät]] (engl.: „pur­chas­ing power parity“, PPP), ein Faktor, um denn sich die Kauf­kraft in ver­schied­enen Volks­wirt­schaften, oder in ver­schied­enen Zeit­räumen innerhalb einer Volks­wirt­schaft, unter­scheidet. Dabei handelt es sich aber stets um einen Durch­schnitts­wert für die //gesamte// Volks­wirt­schaft. Es ist leicht nach­voll­zieh­bar, dass sich der Kauf­kraft­wert etwa für Pro­dukte der lokalen Land­wirt­schaft stark von dem etwa für High-Tech Rüst­ungs­güter unter­scheidet. Daher sollte auch dieser Wert nicht un­ein­ge­schränkt auf ein­zelne Pro­dukte oder auch nur Pro­dukt­gruppen über­tragen werden. ==== IQ-Unterschiede von Bevölkerungsgruppen ==== Eine ganze Reihe von Miss­ver­ständ­nissen be­trifft die Unter­schiede zwischen [[mathematik:stochastik:begriffe:normalverteilung|normal­ver­teilten]] Merk­malen. Als Bei­spiel soll dies hier anhand des so­ge­nannten „[[wpde>Intelligenzquotient|In­telli­genz­quo­tienten]]“ (IQ) auf­ge­führt werden: Es werden immer wieder Ver­gleiche von IQs zwischen ver­schied­enen Be­völk­er­ungs­grup­pen (z.B. auf­ge­schlüs­selt nach Be­rufs­grup­pen, Her­kunfts­länd­ern, Par­tei­prä­fer­enzen, Me­di­en­kon­sum, u.s.w) ver­öf­fent­licht. Solche Ver­gleiche haben oft zu­mind­est ge­wisse As­pekte von [[rhetorik:unfaire_diskussionstaktiken:appell_an_emotionen:hauptseite|Emo­tions­apel­len]] oder von [[rhetorik:ablenkungsmanoever:ad_hominem:selbstueberhebung|Selbst­über­heb­ungen]], wes­wegen sie auch gerne auf sozi­alen Medien weiter ver­breitet werden. Wer möchte schon //nicht// gerne glauben, dass eine Gruppe, der man sich selbst zu­ge­hörig fühlt, in­tel­li­genter sei als andere … Dabei sind solche Ver­gleiche bei weitem nicht immer so harm­los wie etwa bei Berufs- oder Studien­fach­ver­gleichen. So werden Unter­such­ungen, nach denen die durch­schnitt­lich er­mit­telten IQs von afro-ameri­kan­ischen Be­völk­er­ungs­grup­pen in den USA nied­riger sind, als die der euro­päisch- oder asia­tisch-stämm­igen Be­völk­er­ung immer wieder als ver­meint­lich „wissen­schaft­liche“ Be­gründ­ung für rass­ist­ische Dis­kri­mi­nier­ung her­an­ge­zogen. Spätere Studien, welche diese Er­geb­nisse wider­legen, werden dabei gerne ignoriert. Es würde zu weit führen, alle Prob­leme solcher Ver­gleiche hier auf­zu­zählen. Spezi­fisch für das Thema dieses Artik­els wäre ein Schluss von unter­schied­lichen Durch­schnitts­werten auf unter­schied­liche In­telli­genzen der Gruppen­mit­glieder je­doch ein sehr gutes Beispiel für einen //öko­log­ischen Fehl­schluss//. Kurz gesagt: auch in der „in­telli­gen­tes­ten“ Gruppe gibt es immer //mehr// oder //weniger// in­telli­gente Indi­viduen. Da der IQ per De­fi­ni­tion [[mathematik:stochastik:begriffe:normalverteilung|normal­ver­teilt]] ist, könnte man die Über­schneid­ung der Merk­mals­ver­teil­ungen in den beiden Gruppen im Prinzip sogar ge­nau be­rechnen. Der Auf­wand dafür lohnt sich aller­dings eher nicht, da die Werte auch noch ziem­lich un­ge­nau sind und eine Unter­scheid­ung meist ohne­hin nur mög­lich ist, wenn man diese mit einer [[mathematik:statistik:darstellungsfehler:irrefuehrende_genauigkeit|irre­führ­enden Ge­nau­ig­keit]] nennt. In den meisten Fäl­len ist der Über­lapp­ungs­be­reich zwi­schen den beiden Popu­la­tionen jedoch so groß (siehe Ab­bild­ung), dass man kaum eine sinn­volle Er­kennt­nis da­raus ab­leiten kann. Unter keinen Um­ständen kann man aus solchen Durch­schnitts­werten von Gruppen irgend­welche Schlüsse auf den IQ von //Indi­vi­duen// ziehen. Noch weniger üb­rigens auf deren //In­telli­genz//, was nicht un­be­dingt das­selbe ist ([[abstraktion:semiotischer_irrtum|Semiotischer Irrtum]]). ===== Siehe auch ===== * [[verallgemeinerung:akzidensfehler:hauptseite|Akzidensfehler]] * [[verallgemeinerung:mereologischer_fehlschluss|Mereologischer Fehlschluss]] * [[rhetorik:ablenkungsmanoever:ad_hominem:schuld_durch_assoziation:nutpicking|Nutpicking]] * [[logik:emergenzfehler:trugschluss_der_division|Trugschluss der Division]] ==== Lernmaterialien ==== * [[lern>allgemein/teil_und_ganzes/verallgemeinerung|Teil und Ganzes › Verallgemeinerung]] ===== Weitere Informationen ===== * [[wp>Ecological fallacy]] auf //Wikipedia// (Englisch) * [[https://www.britannica.com/science/ecological-fallacy|Ecological fallacy]] auf Encyclopedia Britannica (Englisch) * [[https://www.logicallyfallacious.com/logicalfallacies/Ecological-Fallacy|Ecological Fallacy]] auf Logically Fallacious (Englisch) {{page>templates:banner#General-BG-Statistic&noheader&nofooter}}