Der Begriff „Wahrheit“ ist nicht immer so klar und eindeutig definiert, wie man vielleicht meint. Dieses Essay diskutiert drei mögliche Definitionen und zeigt, auf welche Weise diese miteinander in Konflikt stehen können.
Autor:
Sascha Leib
Veröffent­licht auf:
Denkfehler.Online
Erst­veröffent­lichung:
====== Mehrdeutigkeit im Wahrheitsbegriff ====== Der Begriff „Wahrheit“ ist nicht immer so klar und eindeutig definiert, wie man vielleicht meint. Dieses Essay diskutiert drei mögliche Definitionen und zeigt, auf welche Weise diese miteinander in Konflikt stehen können. Dieses Thema war hier zunächst als ein Beispiel für den [[mehrdeutigkeit:turm-und-wall-fehler|Turm‐und‐Wall Fehler]] (engl.: motte and bailey fallacy) vorgesehen, aber je mehr Material dazu zusammen kam, desto mehr zeigte sich, dass dieses Thema zu vielschichtig und komplex ist, um im Rahmen eines kurzen Beispieltextes abgehandelt zu werden. Gleichzeitig ist das Thema aber auch zu wichtig und interessant, um es ganz außen vor zu lassen. Da es auch nicht wirklich in das Format der anderen Artikel auf dieser Site passen wollte, setzt dies nun den Anfang für einen neuen Bereich „[[essays:hauptseite|Essays]]“, wo hoffentlich bald noch mehr Artikel dazu kommen. ===== Warum ist dieser Begriff so wichtig? ===== Der //Wahrheitsbegriff// ist ein zentrales philosophisches Konzept, von dem viele andere wichtige Begriffe abhängen – unter anderem die Fragen, was „richtig“ und „korrekt“, oder was „falsch“, was eine „Tatsache“, oder was eine „Lüge“ ist. Er ist auch zentral für andere wichtige Konzepte, wie etwa „[[wpde>Wissen|Wissen]]“ (meist definiert als „//wahre// und begründete Meinung“), wie beschreibt man die „[[wpde>Realität|Realität]]“ und noch vieles mehr. Zu verstehen, welches Verständnis jeweils hinter jeder Verwendung des Begriffes „Wahrheit“ – oder irgend einem der davon abhängigen Begriffe – steckt, kann helfen, mögliche //Mehrdeutigkeiten// zu erkennen und nicht auf absichtliche oder unabsichtliche Verwirrungen hereinzufallen. Dies ist umso wichtiger, als dieser und die damit verbundenen Begriffe in der politischen und gesellschaftlichen Diskussion recht häufig – und nicht immer transparent – verwendet werden. Aktuelle Diskussionen über Konzepte wie: „[[rhetorik:unfaire_diskussionstaktiken:verwirrungstaktiken:alternative_fakten|Alternative Fakten]]“, „Lügenpresse“, „[[begriffe:bullshit|Bullshit]]“, bis hin zum Einsatz von //generativer künstlicher Intelligenz// ([[wpde>Large Language Model|LLM]]) hängen zu einem nicht unerheblichen Teil davon ab, was wir jeweils als „wahr“ und „richtig“ oder als „falsch“ und „gelogen“ verstehen. ===== Was ist „Wahrheit“? ===== Wie man von einem solchen zentralen Konzept erwarten kann, gab es im Laufe der Geschichte viele verschiedene Ansätze, den Begriff möglichst //eindeutig// zu definieren. Diese sind zwar in den //meisten//, aber eben nicht in //allen// Fällen miteinander kompatibel. Grob lassen sich diese Definitionen in die folgenden drei Gruppen einteilen: ==== 1. Korrespondenz mit der Realität ==== Der einfachste Ansatz, den Begriff „Wahrheit“ zu definieren, ist, die Übereinstimmung (//Korrespondenz//) einer Aussage mit der Realität zu betrachten. Zum Beispiel: > Die Aussage: „Der Himmel ist blau“ > ist genau dann //wahr//, wenn wir //beobachten// können, dass der Himmel tatsächlich blau ist. Das ist wahrscheinlich, wie die meisten Menschen //intuitiv// den Begriff „Wahrheit“ verstehen würden: als //Übereinstimmung mit der Wirklichkeit.// Dies ist auch der Ansatz, der in den meisten Naturwissenschaften verwendet wird. Zum Beispiel in der Geologie: > Die Aussage: „Granit ist härter als Sandstein“ > ist genau dann //wahr//, wenn Granit einen messbar höheren Härtegrad hat als Sandstein. Oder in der Biologie: > Die Aussage: „Zebras sind die bevorzugten Beutetiere von Löwen“ > ist genau dann wahr, wenn Beobachtungen zeigen, dass Löwen in der Tat Zebras als Beutetiere bevorzugen. Dies ist ein praktikabler Ansatz, wenn es um Aussagen geht, welche sich durch einfache Beobachtung //verifizieren// (oder eben //falsifizieren//, also widerlegen) lassen. Löwen kann man bei der Jagd beobachten, die Härte von Gestein lässt sich recht einfach messen. Was aber, wenn es um Aussagen über einen Sachverhalt geht, der sich eben nicht mehr so einfach direkt beobachten lässt: > Das Universum hat vor 13,8 Milliarden Jahren mit einem Urknall begonnen. Da wir die Entstehung des Universums nicht //direkt// messen oder gar beobachten können, brauchen wir hierfür einen anderen Ansatz: ==== 2. Kohärenz mit einem Aussagensystem ==== Nach diesem Ansatz wird eine Aussage als //wahr// angesehen, wenn sie sich //widerspruchsfrei// in ein etabliertes Aussagensystem integrieren lässt. Das klingt zunächst einmal eher wenig sinnvoll, ist aber tatsächlich ein sehr verbreiteter Ansatz. Zum Beispiel ist in den [[wpde>Rechtswissenschaft|Rechtswissenschaften]] für die Bewertung von neuen Gesetzen oder auch Gerichtsurteilen relevant, ob diese //kohärent// sind mit existierenden Gesetzen bzw. früheren Entscheidungen. Ähnliches gilt für die [[wpde>Mathematik|Mathematik]], wo wir Situationen wie die folgende haben: > Die mathematische Aussage: > 2kl  ;k,list genau dann //wahr//, wenn sie nicht zu Widersprüchen mit den Axiomen der Mathematik führt. Ähnliches finden wir zumindest zum Teil auch in [[wpde>Sozialwissenschaften|Sozial-]] und [[wpde>Volkswirtschaftslehre|Wirtschaftswissenschaften]]. Ganz zu schweigen von Spezialfällen, wie etwa in der [[wpde>Theologie|Theologie]]. === Beispiel: Physik === Das beste Beispiel hierfür dürfte die [[wpde>Physik|Physik]] liefern, in der die beiden genannten Wahrheitsdefinitionen quasi nebeneinander verwendet werden: Als [[wpde>Naturwissenschaft|Naturwissenschaft]] beschreibt die //Physik// natürlich die Realität, und damit ist die //Korrespondenz// ihrer Aussagen mit der Wirklichkeit von zentraler Bedeutung. Die Physik ist aber auch sehr stark von der [[wpde>Mathematik|Mathematik]] geprägt und benutzt mathematische Modelle, um Aussagen über die Realität zu machen. Diese wiederum basiert, wie oben gezeigt, auf einem //Kohärenz//-Modell. Über diese beiden Ansätze kommt man //in den meisten Fällen// zu denselben Ergebnissen … aber eben nicht immer! Zum Beispiel neigen viele mathematische Modelle dazu, gegen //unendlich// zu laufen – entweder gegen unendlich groß oder unendlich kleine Werte bzw. Abweichungen. In der Natur kommt „Unendlichkeit“ aber praktisch nie vor – es gibt immer Grenzen, sowohl im Großen als auch in der Genauigkeit, mit der gemessen werden kann. Es fällt auf, dass viele wichtige Fortschritte in der Physik immer wieder daher kamen, dass es zu Konflikten zwischen den mathematischen Modellen und der Realität kam: * Aus der Erkenntnis, dass sich Geschwindigkeiten nicht beliebig (d.h. bis //unendlich//) aufaddieren lassen((siehe: [[wpde>Michelson-Morley-Experiment|Michelson-Morley Experiment]].)), kam man auf die Einführung einer „Höchstgeschwindigkeit“, mit der sich kausale Effekte verbreiten können (etwas irreführend als „[[wpde>Lichtgeschwindigkeit|Lichtgeschwindigkeit]]“ bezeichnet). * Umgekehrt lassen sich etwa //Energiezustände//, //Längen// oder //Zeiteinheiten// nicht //beliebig klein// unterteilen, sodass die unendlich vielen Kommastellen von //irrationalen Zahlen// zur Beschreibung der Realität keinen Sinn machen (jede Zahl mit //endlichen// Kommastellen lässt sich als Bruch darstellen). Kurz gesagt: Es gibt bestimmte Eigenschaften der Mathematik, welche sich nicht in der Realität wiederfinden. [[wpde>Unendlich (Mathematik)|Unendlichkeit]] und [[wpde>Irrationale Zahl|Irrationalität]] sind hierbei nur zwei Beispiele von vielen. Nun ist diese Einsicht nicht neu, und zumindest für erfahrenere Physiker sollte es selbstverständlich sein, dass alleine, dass sich aus einem mathematischen Modell eine Aussage ableiten lässt, noch nicht folgt, dass diese auch tatsächlich die Realität beschreibt. Hierfür wären dann noch experimentelle Erkenntnisse nötig. Ohne diese sollte man zunächst einmal von //mathematischen Artefakten// ausgehen und nicht von //Erkenntnissen// über die Realität. Und natürlich gilt, dass sich die Mathematik, trotz einiger möglichen Problemfälle, als ein //enorm mächtiges// Werkzeug für die Beschreibung der physikalischen Realität erwiesen hat, welches //in den meisten Fällen// auch korrekte Erkenntnisse liefern kann. === Beispiel: Lernen und Bewertung von (neuen) Informationen === Die Fähigkeit, ein zumindest oberflächlich //kohärentes// Weltbild aufzubauen und darin [[psychologie:begriffe:kognitive_dissonanz|kognitive Dissonanzen]] zu vermeiden, gehört zu den wichtigsten kognitiven Fähigkeiten eines jeden Menschen. Ein wichtiger Aspekt dieser Fähigkeit besteht darin, neue Informationen danach zu beurteilen, ob und wie sie in das jeweilige bestehende Weltbild eingepasst werden können. Informationen, welche sich nicht so einfach einfügen lassen oder diesem womöglich sogar widersprechen, erfordern dabei zumindest (im besten Fall) einen deutlich höheren mentalen Aufwand, als solche, die leicht einpassbar sind. „Schwierige“ Wissensgebiete wie die [[wpde>Quantenphysik|Quantenphysik]] oder auch die [[wpde>Probabilistik|Probabilistik]] sind ja gerade deshalb so schwer zugänglich, weil sie nicht so leicht in ein naives Verständnis von Physik oder Mathematik zu passen scheinen. Ebenso fällt es uns (allen!) schwerer, neue Informationen zu akzeptieren, wenn diese im Widerspruch zu unserem bestehenden politischen, religiösen oder ganz allgemein gesellschaftlichen Weltbild stehen. Wir neigen dazu, diese zunächst einmal als weniger //relevant// und/oder weniger //glaubwürdig// zu betrachten als solche, welche das eigene Weltbild zu bestätigen scheinen. Dieser Effekt ist bekannt als eine [[psychologie:kognitive_verzerrungen:hauptseite|kognitive Verzerrung]] namens [[psychologie:kognitive_verzerrungen:bestaetigungsneigung|Bestätigungsneigung]]. Auch hier gilt – wie bei allen //kognitiven Verzerrungen// – dass es sich nicht um Naturgesetze handelt, die wir nicht umgehen können. Menschen sind durchaus in der Lage, selbst zu entscheiden, welche neuen Informationen sie akzeptieren wollen und welche nicht – und im Idealfall tun wir das sogar nach //rationalen// Gesichtspunkten und nicht nur aus einem „Bauchgefühl“ heraus. Im Falle von Einsichten, die unseren bestehenden Überzeugungen widersprechen, ist dies jedoch mit einem relativ hohen Aufwand verbunden – womöglich müssen dadurch ja auch andere Überzeugungen neu bewertet werden – sodass wir diese Fähigkeit vor allem bei besonders wichtigen Fragen einsetzen – etwa für wichtige Geschäftsentscheidungen – während ansonsten psychologische Effekte wie die oben beschriebenen die wichtigere Rolle spielen. ==== 3. Sozialer Konsens ==== Eine wichtige Leistung von sozialen Gruppen ist es, dass sie sich auf bestimmter //Normen// einigen, die innerhalb dieser Gruppe gelten. Dies kann durch stillschweigende Übereinkunft geschehen, oder auch durch Bestimmung oder zumindest Beeinflussung durch eine Autorität (z. B. [[wpde>Legislative|Gesetzgeber]], [[wpde>Kirche (Organisation)|Kirche]]), in jedem Fall sind diese Normen dann spezifisch für die jeweilige Gruppe oder Gesellschaft. In anderen Kontexten – sprich: in anderen Gruppen – können sie anders festgelegt sein. Diese Festlegungen können sich auf ein breites Spektrum unterschiedlicher Normen beziehen: Sie reichen von einfachen Regeln des täglichen Zusammenlebens (z. B.: „auf der Rolltreppe rechts stehen und links gehen“) über kodifizierte Regeln (z. B. [[wpde>Gesetz|Gesetze]]) bis hin zu dem Rahmen, in dem Phänomene des täglichen Lebens interpretiert werden – ist z. B. ein [[wpde>Blitz|Gewitterblitz]] eine elektrostatische Entladung, oder der Ausdruck eines zornigen Gottes? ([[begriffe:narrativ#gesellschaftlicher_narrativ|gesellschaftlicher Narrativ]]) === Beispiel: Rechts- oder Linksverkehr === Als ein einfaches Beispiel für eine solche gesellschaftliche Norm, die sowohl durch Übereinkunft als auch durch Gesetze kodifiziert ist, könnte man sagen: > „Im Straßenverkehr müssen alle auf der //rechten// Straßenseite fahren.“ Dass solche Festlegungen arbiträr sein können, wird meist erst deutlich, wenn man mit einer anderen Festlegung, die in einem anderen Zusammenhang gültig ist, konfrontiert wird. In anderen Weltgegenden – etwa den britischen Inseln, auf Zypern oder in Japan – gilt stattdessen: > „Im Straßenverkehr müssen alle auf der //linken// Straßenseite fahren.“ Dabei können dieselben Fragen auch von derselben Gruppe zu unterschiedlichen Zeitpunkten unterschiedlich festgelegt werden. So wechselte Schweden von Links- zu Rechtsverkehr. Auch andere gesellschaftliche Narrative können sich im Laufe der Zeit ändern: === Beispiel: Staatsgewalt === Bis zum frühen 20. Jahrhundert war die Frage, wer in einem Land die Staatsgewalt ([[wpde>Souveränität|Souveränität]]) innehat, nach allgemeinem Verständnis durch das Prinzip des [[wpde>Gottesgnadentum|Gottesgnadentums]] geklärt. Dies könnte man (etwas vereinfacht) wie folgt in eine Aussage fassen: > „Der König ist der von Gott eingesetzte Souverän.“ Diese Rolle hat sich in der Zwischenzeit vollständig verändert. Selbst in (europäischen) Ländern, die sich eine konstitutionelle Monarchie bewahrt haben, gilt inzwischen das Prinzip der [[wpde>Volkssouveränität]]. Oder anders (und wiederum etwas vereinfacht) ausgedrückt: > „Das Volk ist der souveräne Träger der Staatsgewalt.“ Solche sozialen Festlegungen stellen auch eine Form von „Wahrheit“ dar, man könnte also sagen, dass es für Menschen des Mittelalters „wahr“ war, dass der Herrscher von Gottes Gnaden eingesetzt wurde, genauso wie es für uns heute „wahr“ ist, dass alle Staatsgewalt vom Volk ausgeht (bzw. ausgehen //sollte//). ===== Äquivokationen des Wahrheitsbegriffes ===== Es ist nicht schwer, sich vorzustellen, dass solche unterschiedlichen Wahrheitsdefinitionen leicht miteinander verwechselt werden können. Im schlimmsten Fall wird eine solche Verwechslung als rhetorische [[rhetorik/unfaire_diskussionstaktiken/verwirrungstaktiken/hauptseite|Verwirrungstaktik]] eingesetzt, indem nämlich eine „Wahrheit“ nach der //einen// Definition etabliert wird und dann so getan wird, es handle sich um die //andere//. Dies ähnelt dem hier als „[[mehrdeutigkeit:turm-und-wall-fehler|Turm-und-Wall Fehler]]“ bezeichneten Denk- und Argumentationsfehler. Hierbei werden zwei ähnliche (aber nicht identische) Positionen untereinander vertauscht – in diesem Fall zwei verschiedene Wahrheitsdefinitionen – in der Hoffnung die Diskussionspartner, oder wenigstens ein Teil des Publikums ([[begriffe/bauernfaengerei|Bauernfängerei]]) werde das schon nicht bemerken. ==== Beispiel: „Alternative Fakten“ ==== Als ein solches Verwechslungsspiel kann man zum Beispiel den Gebrauch des Begriffes „[[rhetorik:unfaire_diskussionstaktiken:verwirrungstaktiken:alternative_fakten|alternative Fakten]]“ (engl.: „alternative facts“) verstehen, mit dem [[wpde>Kellyanne Conway]], die damalige Beraterin des früheren US-Präsidenten [[wpde>Donald Trump]], eine Behauptung des Pressesprechers [[wpde>Sean Spicer]] zu rechtfertigen versuchte, der eine faktisch //falsche// (im Sinne von „nicht mit der Realität //korrespondierende//“) Aussage über die Zahl der Teilnehmer der Inaugurations­feier des Präsidenten gemacht hatte. Sie versuchte damit wohl zu suggerieren, diese sei nach einer der anderen Wahrheitsdefinition „wahr“ – entweder im Sinne der //Kohärenz// mit ihrem Weltbild, oder als //soziale Wahrheit// in ihrem bzw. dem Umfeld des Präsidenten. Im Prinzip spricht auch nichts dagegen, eine solche „alternative“ Wahrheitsdefinition zu verwenden – vorausgesetzt, diese wird transparent kommuniziert. Das war in dieser Situation jedoch nicht der Fall. Vielmehr hat Ms. Conway versucht, die „soziale Wahrheit“ als äquivalent zu gegenteiligen Aussagen darzustellen, wofür sie (wohl zurecht) der Lüge bezichtigt wurde. ===== Hierarchie der Wahrheitsdefinitionen ===== Ein möglicher Lösungsansatz zu solchen Definitionskonflikten scheint darin zu bestehen, dass man eine Hierarchie der Bedeutungen definiert – etwa indem man //Korrespondenz//-Wahrheiten als „richtiger“ oder „wahrer“ ansieht als //Kohärenz//-Wahrheiten und dann mögliche //soziale// Wahrheiten weniger gewichtig als die beiden anderen Formen. Dieser Ansatz ist die logische Konsequenz der naiven Annahme, dass die //Korrespondenz mit der Realität// die „natürliche“ Definition des Begriffs darstellt, während die anderen Formen eher „[[rhetorik:unfaire_diskussionstaktiken:umdefinierung|Umdefinierungen]]“ seien, mithin also rhetorische Kniffe, um den Begriff auch außerhalb des normalen Anwendungsbereiches gebrauchen zu können. Dem muss jedoch entgegengehalten werden, dass jede dieser Wahrheitsdefinitionen jeweils einen Gültigkeitsbereich hat, in dem sie „richtiger“, oder wenigstens „sinnvoller“ sind als die anderen. Um nur einige Beispiele zu nennen: * Auch wenn mathematische Konzepte wie die [[wpde>imaginäre Zahl]] i, oder [[wpde>Irrationale Zahl|Irrationalität]] keine //Korrespondenz// in der Realität haben, sind sie doch sinnvolle Konzepte, welche helfen können, Phänomene in der Realität //besser// zu beschreiben, als dass es ohne diese Konzepte möglich wäre. Mit anderen Worten, ein //Kohärenz//-Ansatz ist in diesen Fällen deutlich sinnvoller als ein //Korrespondenz//-Ansatz. * Wenn Historiker z.B. über das Weltbild in der Zeit der chinesischen [[wpde>Han-Dynastie|Han-Dynastie]] schreiben, macht es wenig Sinn, darauf hinzuweisen, dass die Erde tatsächlich auch im 3. Jahrhundert unserer Zeitrechnung schon eine Kugel war. Der wichtige Aspekt hier ist, dass die //soziale Wahrheit// für Menschen dieser Gesellschaft, die einer flachen Welt war. Anstatt eine generelle Hierarchie der Wahrheitsdefinitionen aufzustellen, ist es sinnvoller, für jeden spezifischen Kontext die am besten geeignete Definition zu wählen und – das ist der wichtige Teil: //dies auch transparent zu machen//! ==== Beispiel: „Wissenschaftlicher Konsens“ ==== Eine Form von Argument, welche immer mal wieder im öffentlichen Diskurs zu verschiedenen Themen auftaucht, ist, dass es zu einer Frage einen „wissenschaftlichen Konsens“ gibt. Das bedeutet, dass die überwiegende Mehrheit der Experten (bzw. Wissenschaftler), die sich mit einem Thema beschäftigen, eine bestimmte Position vertritt, welche somit den derzeitigen [[wpde>Stand der Wissenschaft|Stand der Wissenschaft]] darstellt. Beispiele für solche Diskussionsthemen sind etwa der [[wpde>Wissenschaftlicher Konsens zum Klimawandel|Klimawandel]], oder eine Reihe von Fragen rund um die Einordnung und Behandlung von [[wpde>COVID-19|COVID-19]] – und natürlich auch die schon genannte [[wpde>Erdkrümmung|Kugelform der Erde]]. Der Verweis auf einen „Konsens unter Experten“ als rhetorisches Argument ist sicher auf vielen Ebenen //diskussionswürdig//. In diesem Zusammenhang soll aber nur darauf hingewiesen werden, dass es sich hierbei eben wieder um eine Wahrheit aufgrund eines //sozialen Konsenses// handelt, also um eine Übereinkunft in einer Gemeinschaft, ein Phänomen auf eine bestimmte Weise zu interpretieren (auch wenn dies wiederum gewöhnlich auf einer //Korrespondenz mit der Realität// [Forschung] und/oder der //Kohärenz mit dem bestehenden Wissen// rund um das Forschungsobjekt beruht). Umgekehrt versuchen Kritiker dieser Positionen oft, mit einem vermeintlichen „[[rhetorik/killerphrasen/gesunder_menschenverstand|gesunden Menschenverstand]]“ zu argumentieren, insbesondere mit Argumenten, welche nicht-Experten plausibel genug erscheinen, um sie mit deren bestehendem Weltbild zu vereinen. Dies sind alles Aspekte einer „Kohärenzwahrheit“, die eher an die [[psychologie:kognitive_verzerrungen:bestaetigungsneigung|Bestätigungsneigung]] oder in manchen Fällen womöglich sogar [[relevanz:wunschdenken:hauptseite|Wunschdenken]] der Zielgruppe appellieren. Welche Position die „richtigere“ ist, wird man im Einzelfall entscheiden müssen. Wichtig für uns ist, dass die Einordnung in die hier beschriebenen Formen von Wahrheitsdefinitionen alleine kein hinreichender Hinweis darauf ist, welcher Seite man Glauben schenken sollte. ===== Fazit ===== Eine Reihe von Problemen können auftreten, wenn unterschiedliche Wahrheitsbegriffe auf eine Weise verwendet werden, die sie ununterscheidbar machen, obwohl eine Unterscheidung angemessen wäre. In Extremfällen können verschiedene Wahrheitsdefinitionen parallel im selben Kontext, oder sogar in derselben Aussage verwendet werden. In vielen Fällen führen solche Mehrdeutigkeiten zu einer Form von [[mehrdeutigkeit:turm-und-wall-fehler|Turm‐und‐Wall]]-Situation, bei der die verschiedenen Konzepte ununterscheidbar miteinander vermischt werden. Man sollte allerdings nicht automatisch davon ausgehen, dass dahinter in jedem Fall eine //absichtliche// rhetorische [[rhetorik/unfaire_diskussionstaktiken/verwirrungstaktiken/hauptseite|Verwirrungs­taktik]] steckt. Die Unterschiede zwischen den verwendeten Definitionen sind nicht immer so eindeutig und klar erkennbar wie in den Beispielen hier. Wahrscheinlicher ist es, dass der Grund für eine solche Mehrdeutigkeit eine echte Verwechslung ist. Umso wichtiger ist es, die möglichen Implikationen, die sich aus den verschiedenen Wahrheitsbegriffen ergeben, zu kennen, //er//kennen zu lernen, und gegebenenfalls auch von Diskussionspartnern klar stellen zu lassen. Und natürlich sollte man selbst solche Mehrdeutigkeiten vermeiden. Das kann durch eine Klarstellung der gebrauchten Definition(en) geschehen, oder durch qualifizierende Attribute, wie die hier benutzten Bezeichner „soziale Wahrheit“ gegenüber „Korrespondenz-Wahrheit“. In manchen Situationen kann es auch genügen, die verschiedenen Abstraktionsstufen von //Wahrheit// gegenüber „Wahrheit“ typographisch (z. B. durch Anführungszeichen) kenntlich zu machen. ===== Siehe auch ===== * [[rhetorik:unfaire_diskussionstaktiken:verwirrungstaktiken:alternative_fakten|Alternative Fakten]] * [[psychologie:kognitive_verzerrungen:bestaetigungsneigung|Bestätigungsneigung]] * [[mehrdeutigkeit:turm-und-wall-fehler|Turm-und-Wall Fehler]] ===== Weitere Informationen ===== * [[wpde>Wahrheit|Wahrheit]] auf //Wikipedia// * [[stanford>truth|Truth]] auf Stanford Encyclopedia of Philosophy (Englisch) * [[https://iep.utm.edu/truth/|Truth]] auf Internet Encyclopedia of Philosophy (Englisch) {{page>templates:banner-essays#Generic-Essay-Footer&noheader&nofooter}}